Wenn es etwas gibt, was das Schaffen von Olga Neuwirth, einer der führenden Stimmen der Musik der Gegenwart, zusammenhält, dann ist es gerade seine Vielgestaltigkeit. Mit jedem Werk scheint man in eine neue, und doch immer unverkennbar nach Neuwirth klingende Welt einzutauchen – eine Welt, die zweifellos zur zeitgenössischen Musik gehört, sich aber zugleich von überkommenen Stil- und Genregrenzen gänzlich unbeeindruckt zeigt. Beständig gestaltet die Komponistin Klangsituationen, denen das Potenzial für unvermutete Wendungen innewohnt. So begegnen musikalische Verweise auf Monteverdi oder Strawinsky in ihrem Schaffen genauso wie die Avantgarde-Chansons des Pop-Countertenors Klaus Nomi.
Schon in den 1990er-Jahren begann Neuwirth, die in San Francisco und Wien nicht nur Komposition, sondern auch Film studierte, ihre Ausdrucksmittel um elektronische Klänge, neue Raumkonzepte und visuelle Elemente zu erweitern und betrat so künstlerisches Neuland. Weitere Inspirationsquellen sind Literatur, insbesondere die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, mit der sie mehrfach zusammenarbeitete, Film – die Oper »Lost Highway« etwa basiert auf dem gleichnamigen Film von David Lynch –, aber auch Architektur und Naturwissenschaft.
Das Aufbrechen von Rezeptionsgewohnheiten und ästhetischen Gewissheiten, das sich durch ihr Schaffen zieht, ist für Olga Neuwirth kein Selbstzweck, sondern hat durchaus gesellschaftliche Implikationen. Ihre Kunst macht die Widersprüche und Fragilität der menschlichen Existenz hörbar, und öffnet damit zugleich einen Raum für ihre Reflexion und mögliche Überwindung.
Diese disparaten Einflüsse und Interessen finden in Olga Neuwirths über einhundert Werken aus und zwischen allen Gattungen und Genres ihren jeweils ganz individuellen Ausdruck. In dem 2013 entstandenen Orchesterwerk »Masaot/Clocks without Hands«, das zum Ende der Saison Daniel Harding in Dresden dirigieren wird, verwebt die Komponistin »immer wieder kurz aufblitzende Melodiefragmente aus sehr unterschiedlichen Orten und Lebenserfahrungen« ihres eigenen Großvaters zu einer »poetischen Reflexion über das Verschwinden von Erinnerung«. Ihre Oper »Orlando« nach dem Roman von Virginia Woolf, die die ganze Bandbreite ihrer künstlerischen Anliegen zusammenführt, wurde im Dezember 2019 zur ersten großen Uraufführung einer Komponistin in der Geschichte der Wiener Staatsoper und erhielt den renommierten Grawemeyer Award. Ihr neuestes Orchesterwerk »Dreydl« beschäftigt sich mit »der Gestaltung eines durchgehenden tanzähnlichen Rhythmus« und erklingt im Dezember 2022 als deutsche Erstaufführung der Semperoper.
Olga Neuwirth, die 2018 ihren 50. Geburtstag feierte, wurde für ihr Schaffen vielfach ausgezeichnet. Im Jahr 2022 erhält sie für ihre »einzigartige, alle Genregrenzen überschreitende Klangsprache« als zweite Komponistin überhaupt einen der international renommiertesten Musikpreise, den Ernst von Siemens Musikpreis.