Capell-Compositrice Unsuk Chin im Gespräch mit Arnaud Merlin

»Die Träume geben mir Energie, die ich brauche, um das Leben zu meistern.«


Unsuk Chin

Unsuk Chin wird am 6. November 2025, 20.00 Uhr im Festspielhaus Hellerau Einblicke in ihre ganz persönliche musikalische Biographie geben. Unter der Leitung von Jonathan Stockhammer erklingen Werke von Vorbildern und Wegbegleitern der aktuellen Capell-Compositrice Unsuk Chin – ein wahrer Kosmos voller zeitgenössischer Klänge! 

 

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Unsuk Chin, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit und an Ihr Heimatland?

Ich wurde 1961 in Seoul geboren, Korea war zu diesem Zeitpunkt ein sehr armes Land. Mein Vater war Pastor, wir hatten kein Geld, nichts zu essen und lebten in einem kleinen Haus mit einem Strohdach. Als ich zwei Jahre alt war, kaufte mein Vater für die Kirchengemeinde ein Klavier, ein deutsches Instrument. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Musikinstrument gesehen habe.

Sie hatten keine Berührung mit traditioneller koreanischer Musik?

Natürlich gab es viel traditionelle Musik, aber man lernte sie nicht, sondern hörte sie im Alltag. Wir spielten keine Musik in meine Familie. Man muss bedenken, dass die koreanische Tradition unterbrochen und sogar verboten wurde: zunächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die europäischen Kolonialisten, danach von den Japanern. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erhielten wir wieder viele Einflüsse von außen, vor allem aus der europäischen Kultur.

Ich mochte beides, sowohl die traditionelle koreanische Musik als auch die europäische Musik, vor allem die Kirchenmusik. In unserer Kirche gab es eine kleine Orgel. Ich liebte es, die Gottesdienste zu begleiten, weil es eine gute Übung war, um die Harmonie der europäischen Musik zu erlernen und zu vertiefen.

Wie sind Sie auf das Klassische Repertoire aufmerksam geworden? Durch das Radio?

Später verfügten wir zu Hause über ein kleines Radio. Und Freunde besaßen kleine, tragbare Schallplattenspieler. Als ich acht Jahre alt war, sah ich einen Film mit Ingrid Bergman, in dem Beethovens Klaviersonate "Pathétique" zu hören war. Ich kannte weder Beethoven noch die "Pathétique", aber es war so schön, dass ich ein oder zwei Jahre lang versuchte, herauszufinden, um welches Stück es sich handeln könnte.

Ich habe versucht, mir das Klavierspielen beizubringen, und als ich in der Grundschule war, hörte ich immer mehr von der klassischen europäischen Musik, von Mozart und Beethoven. Ich war sehr neugierig und wollte unbedingt Musikerin werden, aber wir konnten es uns nicht leisten, und so konnte ich mir nur langsam das Geld für Musiknoten und Partituren zusammensparen.

Wie wurde Ihnen bewusst, dass Sie Komponistin werden wollen?

Als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, hatte ich in der Schule einen Musiklehrer, der Komponist war. Er gab mir auch Klavierunterricht, aber ich musste abbrechen, weil wir ihn nicht bezahlen konnten. Eines Tages spielte er mir Mozarts ""Kleine Nachtmusik"" vor und bat mich, sie aufzuschreiben. Da ich sie fünfstimmig wiedergab, sagte er, dass ich ein gutes Gehör hätte und dass ich mir überlegen sollte, Komponistin zu werden.

Wollten Sie auswandern oder war es damals schwierig, Ihr Land zu verlassen?

Das Leben war hart, das Elend groß, die Menschen hatten keinen Respekt voreinander, insbesondere nicht vor Frauen und Kindern. Alle, die flüchteten, hatten nur einen Traum: nach Europa zu gehen, insbesondere nach Deutschland. Ich auch.

Warum wurde es Deutschland und nicht etwa Frankreich oder ltalien?

Ganz einfach! Weil wir Bach, Mozart, Beethoven, und Brahms kannten. Auf die Musik von Ravel traf ich erst wesentlich später.

So lernten Sie Ihren Lehrer, den koreanischen Komponisten Sukhi Kang [1934-2020], kennen, der selbst ein Schüler von Isang Yun [1917-1995] war.

Ich war Sukhi Kangs erster Schüler, nachdem er von einem längeren Aufenthalt in Deutschland nach Korea zurückkehrte. Glücklicherweise unterstützte mich Sukhi Kang bei der Beantragung eines Stipendiums des DAAD [Deutscher Akademischer Austauschdienst]. Ich erhielt es!

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck von Deutschland, von Hamburg im Jahr 1985?

Es war schrecklich! Das Wetter war schrecklich, die Leute waren schrecklich. In drei Jahren Hamburg habe ich nicht einen einzigen Freund gefunden.

Sie wurden 1991 mit dem sehr originellen Stück „Akrostichon- Wortspiel“ bekannt: Wie kamen Sie auf diese Idee?

Ich habe mir sehr gewünscht, Vokalmusik zu schreiben. Die Koreaner lieben es, zu singen. Parallel dazu habe ich mich in die Literatur des Absurden vertieft, in Werke von Lewis Caroll, und in die Bücher von Michael Ende.

Einige Jahre lang folgten Sie dem Faden von Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“, und aus dem Stück entstand 2007 eine Oper.

Damals begeisterte ich mich für den Surrealismus, den Dadaismus. Ich verwendete abstruse Texte, ich hatte Angst, einen Text zu verwenden, der eine Semantik hat. Das hat mir Spaß gemacht und kreative Freiräume eröffnet. Ich konnte alle meine verschiedensten musikalischen Interessen – elektronische Musik, Volksmusik, Kirchenmusik, Alte Musik, neue Musik, sinfonische Musik, Vokalmusik – ohne Einschränkungen unterbringen. 

Heute ist das anders, meine musikalische Sprache wie auch meine Interessen haben sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verändert. Mein Interesse an Astronomie und Astrophysik hat mich ebenfalls stark beeinflusst. Im Übrigen ist die Inspiration auch jedes Mal unterschiedlich.

Sie haben schon oft über den Einfluss von Träumen auf Ihre Kreativität gesprochen. Inspirieren Sie Träume? Oder möchten Sie, dass Ihre Musik wie Träume wahrgenommen werden?

Träume geben mir die Energie, die ich brauche, um das Leben zu meistern.

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