Alexander Gurdon
Schostakowitschs Verbindung zur Staatskapelle Dresden
Schostakowitsch und Sachsen, das ist eine symptomatische Verbindung. Für den politisch getriebenen Komponisten waren Auslandsaufenthalte eine Seltenheit, wobei die zum sowjetischen Hoheitsgebiet gehörende DDR zudem gar nicht so sehr Ausland war. Inhaltlich jedoch boten diese Reisen die Möglichkeit zu Abstand, Reflexion und Anerkennung für Schostakowitsch, dessen Leben zu den zerrissensten Komponistenbiographien des 20. Jahrhunderts zählt.
In mehreren Verfolgungswellen war Schostakowitsch immer wieder ins Visier der sowjetischen Politik und Willkür geraten: 1936, während Stalins ‚Großem Terrors‘, als seine Oper Lady Macbeth von Mzensk lebensbedrohlich als „Chaos statt Musik“ diffamiert worden war. 1948 trifft ihn ein Berufs- und Aufführungsverbot, weil seine Werke zu westlich und zu formalistisch seien. Und auch nach Stalins Tod bedeutete das aufziehende Tauwetter keine Entspannung, wie der 1960 von Chruschtschow erzwungene Parteieintritt Schostakowitschs in die KPdSU zeigt, um ihn als prominentes Aushängeschild zum neuen Vorsitzenden des Komponistenverbands zu machen.
Umso wichtiger werden für ihn die Reisen nach Sachsen. „Schostakowitsch ist immer sehr gern in der damaligen DDR gewesen, weil er hier von oben die Anerkennung und die Zustimmung gefunden hat, die ihm in seiner Heimat versagt geblieben ist“, erinnerte sich 2010 der ehemalige Chefdirigent der Staatskapelle Kurt Sanderling im Interview. „Man hat ihn ja dort nur zähneknirschend anerkannt. Hier spürte er bei den Oberen, also den damaligen Vertretern des Kulturministeriums, doch eine große Wärme und, ich möchte fast sagen, Ehrfurcht. Das hat ihm gutgetan.“
Kurt Sanderling wird nicht der einzige bleiben, der sich für die Musik Schostakowitschs einsetzt, gerade die Staatskapelle übernimmt eine Führungsrolle in der Interpretation seiner Sinfonien: 1959 nimmt Franz Konwitschny die unlängst entstandene 11. Sinfonie auf, 1963 leitet Kirill Kondraschin in Dresden die deutsche Erstaufführung der 4. Sinfonie, fast dreißig Jahre nachdem Schostakowitsch die Premiere aus Angst zurückgezogen hatte, und 1976 reist Herbert von Karajan mit der Staatskapelle und der 10. Sinfonie zu den Salzburger Festspielen. All diese Aufführungen sind in ihrer politischen Strahlkraft nicht hoch genug einzuschätzen, insbesondere jener Auftritt in Salzburg, da Schostakowitsch im Westen fast durchweg als linientreu und propagandistisch hohl eingestuft wurde.
Schostakowitschs Aufenthalte in der DDR beginnen 1950, nur zwei Jahre nach den desaströsen Hetzkampagnen des Komponistenverbands. Er sitzt in der Jury des Leipziger Bachfests und zeigt sich begeistert von der Bach-Tradition. Sein kompositorischer Widerhall werden seine Präludien und Fugen op. 87, die er nach seiner Rückkehr komponiert und die sich am Wohltemperierten Klavier orientieren. Die Inspiration dieses Aufenthalts ist Schostakowitsch anzuhören, auch wenn diese Musik ihre dunklen Schatten nicht verhehlen kann.
1960 wird Schostakowitsch wieder entsandt, diesmal nach Dresden, um bei einem großangelegten Propagandaprojekt zu helfen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Kunstschätze der Gemäldegalerie evakuiert und in Quartieren und Tunneln vor der Zerstörung bewahrt worden. Danach wanderten sie durch die Hände der Roten Armee nach Moskau und in russische Museen, um sie zu konservieren und zu beschützen, so das sowjetische Narrativ – Beutekunst ist der historisch treffendere Begriff dafür. Zehn Jahre später erfolgte 1955 die Rückgabe eines Großteils dieser Kunstwerke an die DDR, passend zur 750-Jahr-Feier der Stadt Dresden und der Wiedereröffnung der Sempergalerie (bis heute sind allerdings über 400 Gemälde immer noch verschollen).
1960 soll nun ein grenzübergreifender Film diese selbstlose Teilrückgabe als Verbrüderung adeln. Im Zentrum stehen die heldischen Retter, das zerstörte Dresden und, so zumindest der politische Wunsch, Schostakowitschs Filmmusik. Doch Schostakowitsch hadert: Kurz zuvor hatte er von dem erzwungenen Eintritt in jene Partei erfahren, die ihm so viel Gewalt angetan hatte, so dass er sich ernstlich mit Suizidgedanken auseinandersetzt. Untergebracht ist er in diesem Juli 1960 im Gästehaus des Ministerrates der DDR, im kleinen Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz und er entschließt sich, hier statt Filmmusik ein neues, sein 8. Streichquartett zu schreiben. Es dauert nur drei Tage, an einem kleinen Teich unter einer Buche – in seinem Nacken, an der Einfahrt zum Gebäudekomplex, halten mehrere Polizisten Tag und Nacht Wache. Eine Schostakowitsch-Szenerie par excellence. Es entsteht ein autobiographisches Quartett voller Abgründe und Verzweiflung, voller Selbstzitate und stetiger Erschöpfung statt Erlösung.
Dieser Aufenthalt Schostakowitschs in Gohrisch und die dortige Komposition seines wohl berühmtesten Werks ist die Keimzelle der „Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch“, dem weltweit einzigen Festival, das sich seit 2010 alljährlich seiner Musik und der osteuropäischen Kammermusik des 20. und 21. Jahrhunderts widmet. Und auch hier ist die Staatskapelle wieder eng mit der Schostakowitsch-Tradition verbunden: Bei einer ersten Begehung des Örtchens war eine Delegation der Staatskapelle vor Ort und Isang Enders, damals Konzertmeister der Violoncelli, testete den Klang der Scheune, in der bis heute alle Konzerte stattfinden. Der damalige Konzertdramaturg und Initiator dieses Rundgangs Tobias Niederschlag ist heute künstlerischer Leiter des Festivals.
Nach Gohrisch kehrte Schostakowitsch nur noch einmal wieder, und zwar im Sommer 1972, während der deutschen Erstaufführung seiner 15. Sinfonie in Berlin. Die Staatskapelle hingegen kommt seit 2010 jeden Sommer. Für ihr Engagement wird sie dieses Jahr mit dem Internationalen Schostakowitsch Preis ausgezeichnet. Und Schostakowitsch hätte diese Entwicklung, dass ausgerechnet an dem von ihm so geschätzten und erholsam leisen Ort, ein derartiges Festival über all die Jahre so aufblüht, sicherlich gefallen.